Marco Balzano hat sich in seinem jüngsten Roman mit dem Thema Migration
auseinandergesetzt und einen modernen Entwicklungsroman geschrieben: Es geht um Hoffnung und die Suche nach persönlichen Glück, und doch gleichsam um jene melancholischen Momente und das Gefühl, dass eigentliche Leben verpasst zu haben…
auseinandergesetzt und einen modernen Entwicklungsroman geschrieben: Es geht um Hoffnung und die Suche nach persönlichen Glück, und doch gleichsam um jene melancholischen Momente und das Gefühl, dass eigentliche Leben verpasst zu haben…
Mit geschlossenen Augen versuche ich mich an die Orte zu erinnern, die
ich früher aufsuchte und an die ich bald mit der Tram oder dem Fahrrad
zurückkehren kann. Dort werde ich hingehen, um mir meine Geschichte zu
erzählen. (71)
ich früher aufsuchte und an die ich bald mit der Tram oder dem Fahrrad
zurückkehren kann. Dort werde ich hingehen, um mir meine Geschichte zu
erzählen. (71)
Ende der 50er Jahre kommt ein Kind allein von Sizilien nach Mailand. Um Arbeit zu finden, um eine Chance im Leben zu haben. Ninetto heißt der Junge – und mit seiner mutigen Art und seinem sonnigen Gemüt findet er auch direkt eine Anstellung. Der Weg in ein besseres Leben? 50 Jahre später fühlt sich Ninetto durch Einwanderer aus China und Nordafrika an seine Anfänge in Mailand erinnert. Und die Träume sind Träume geblieben. Oder?
Marco Balzano geht an das komplexe Thema einer Migrationsgeschichte mit dem Fokus auf einen Protagonisten und zwei Erzählsträngen heran. Der Leser erlebt Ninetto Pelleossa als Kind, wie er sich Ende der 50er Jahre mit der Hoffnung auf ein besseres Leben aus dem ländlichen Sizilien ins städtische Mailand aufmacht, um sein Glück zu suchen. Schnell merkt Ninetto, dass in der Stadt ein raueres Klima herrscht, doch er schlägt sich so durch. Im zweiten Erzählstrang beschreibt Balzano das heutige Leben seines Protagonisten, was geworden ist aus den einstigem Träumen. Und in bittersüß-melancholischem Ton zeigt er auf, dass vieles doch anders kommt, als man es sich vielleicht immer gewünscht hat.
Auf der ganzen Strecke jammerten mein Vater und Giuvá darüber, dass
immer mehr Leute aus dem Dorf weggingen und dass trotzdem keine
Arbeitsplätze frei wurden, weil es eben keine Arbeit gab und null plus
null immer null macht. (40)
immer mehr Leute aus dem Dorf weggingen und dass trotzdem keine
Arbeitsplätze frei wurden, weil es eben keine Arbeit gab und null plus
null immer null macht. (40)
Den kindlich-fröhlichen Ninetto mochte ich sehr. Ich war neugierig, wie er sich durchschlagen würde und hatte Freude, ihn auf dem Weg des Erwachsenwerdens zu begleiten. Doch je älter Ninetto wurde, desto mehr schwand meine Sympathie für ihn. Ich bin mir sicher, dass dies auch so vom Autor beabsichtigt war, denn Balzano beschreibt eben auch, wie man sich fühlt, wenn der Lebenshunger der jungen Jahre versiegt, wenn man realisiert, dass man den eingeschlagenen Lebensweg nicht mehr umkehren kann und man in den Trott der alltäglichen (Fließband-)Arbeit gerät. Und wie leicht es ist, auf die schiefe Bahn zu geraten.
Und wenn ich „nach Hause“ sagte, meinte ich unsere Unterkunft in
einer Baracke mitten im Nirgendwo am Stadtrand von Mailand. (163)
einer Baracke mitten im Nirgendwo am Stadtrand von Mailand. (163)
Zwar fand ich Szenerien und Beschreibungen des Lebens von Ninetto sehr authentisch und lebendig, trotz allem hat mich aber die Struktur des Romans teils davon abgehalten, mich auf tieferer Ebene mit dem Protagonisten zu identifizieren. Ich fand es klug und auch notwendig, hier auf zwei Zeitebenen zu erzählen, allerdings habe ich mich als Leser ohne eine ‚richtige‘ Rahmenhandlung und häufig ohne konkrete zeitliche Einordnung doch verloren gefühlt. Auch waren für mich die Sprünge zwischen damals und jetzt nicht immer eingängig. Gerade bei einer Geschichte, die auf wahren Ereignissen beruht, hätte ich ich mir mehr Orientierung gewünscht.
Es ist augenscheinlich, dass ein Autor kein Buch über das Thema Kindermigration schreiben kann, ohne nicht auch die Migrationsthematik der aktuellen Zeit einzubringen. Balzano tut dies auch, jedoch ohne sich anzumaßen, die beiden Situationen vergleichen zu wollen – auch wenn sich dieser Vergleich in deutlicherer Form eigentlich aufgedrängt hätte.
Marco Balzano hat hier einen zugänglichen Roman über das Thema Kindermigration geschrieben – ein Stück italienischer Geschichte, welches mir bisher kaum bekannt war. Leider konnte mich die Geschichte streckenweise emotional nicht so sehr mitnehmen, wie ich es mir gewünscht hätte. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, das Nachwort des Autoren an den Anfang zu setzen? Denn leider habe ich erst hier mit voller Wucht realisiert, mit welcher Leidenschaft Marco Balzano das Thema aufgegriffen hat und welch persönliche Relevanz es im Bezug auf die Biografie seiner Eltern für ihn hat. Trotz des mir leicht missfallenden strukturellen Aufbaus ist Das Leben wartet nicht eine authentische Geschichte über ein sehr lesenswertes Thema. Ein guter Roman aus Italien und sicher ein wichtiges Buch für die italienische Literatur!
Marco Balzano – Das Leben wartet nicht
Diogenes, 2017 | Aus dem Italienischen übersetzt von Maja Pflug
Gebunden mit Schutzumschlag | 304 Seiten | 22,00 € [D], 22,70€ [A]
alle Fotos © The Lines Between
1 Kommentar
Greetings from the UK. Good luck to you and your endeavours.
Thank you. Love love, Andrew. Bye.