Leonie Swann erfindet einen Flohzirkusdompteur und schreibt ein Plädoyer
für mehr Phantasie in unserem Alltag.
Für alle Kritiker, die glauben, dass man den modernen Roman nicht mehr neu erfinden kann.
Kann man nämlich doch.
Wie will man einen Roman beurteilen, der sich schon vorab einer Genrezuordnung entzieht? Von einer Meerjungfrau und einem Magier ist da die Rede im Klappentext – dann aber zugleich der Untertitel auf dem Cover: Vielleicht kein Märchen.
Und doch hat dieser Roman einiges Märchenhaftes zu bieten: Fabeltiere, Zauberei, vermenschlichte Flöhe und einen Helden (Julius Birdwell), der sich an einer Aufgabe abrackert (die Befreiung einer Nixe).
Doch dann entfernt sich Swann wieder von der Fantasie: die Szenen spielen in London, in Yorkshire, die Charaktere haben Probleme beim Zugfahren, mitunter auch beim Bedienen von Kunden. Und dann noch dieser textuelle Beweis:
Das ist kein Märchen! Plötzlich verstand Green, was die Schneckenfrau ihm damit hatte sagen wollen. Im Märchen wurde einem von allen Seiten geholfen. Feen und weiße Zauberer und hilfreiche Wesen tauchten aus der Versenkung auf und lösten alle Probleme. Im wahren Leben hingegen halfen einem höchsten Verkäufer und Herrenausstatter, und die wollten für ihre Dienste entlohnt werden. Man musste die Dinge selbst in die Hand nehmen, Wunderwesen oder nicht! (Seite 329)
Swanns mutige Behauptung, die man als Leser schließlich zwischen den Zeilen findet, lautet also: Diese Geschichte kann so und genau so in der realen Welt des Lesers stattfinden. Harry Potter lässt grüßen.
Swann setzt diese Idee clever um. Der Schreibstil ist klug, hier und da darf man schmunzeln und die wechselnde Fokalisierung lässt den Leser die Story aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Die Charaktere sind wunderbar ausgearbeitet, etwas verschroben aber ungemein sympathisch.
Auch der Titel ist klug gewählt. Dunkelsprung bezeichnet zunächst einen Floh in Birdwells Artistentruppe („Lazarus Dunkelsprung“), allerdings wird dem Leser schnell die Metapher klar. Für Birdwell ist die Suche nach der Nixe ein Sprung ins Unbekannte, heraus aus seinem Alltag, heraus aus seinem bisherigen Leben. Für den Leser ist der Titel Programm: heraus aus dem gefestigten Romangenre, heraus aus vorgefertigten Handlungsstrukturen, hinein in eine unbekannte Realität, eine phantastische aber auch dunklere Seite unseres Alltags (da liegt die Assoziation zu E.T.A Hoffmanns Nachtstücken nahe – und es schließt sich der Kreis zum Kunstmärchen…)
Aufmachung und Inhalt sind gut aufeinander abgestimmt. Das Cover lässt den Leser das Genre erahnen und hält mit seinen unterschiedlichen Motiven eine kleine Detektivarbeit für den Leser bereit. Die Kapitelüberschriften sowie der komplexe Handlungsaufbau schüren die Spannung. Sehr charmant übrigens die Entscheidung, einen kleinen Floh anstatt des üblichen Asterisken zu wählen, um Absätze optisch voneinander zu trennen. Die Auflistung der wichtigsten Charaktere am Beginn des Buches ist sinnvoll und fast unentbehrlich. Die Fakten über Flohzirkusse & Co. am Ende des Buches sind eine nette Beigabe.
Auch wenn sich am Ende alles wunderbar auflöst – zwischenzeitlich sind Swanns Handlungsstränge schon sehr komplex. Dadurch braucht man zunächst länger, um in die Geschichte einzutauchen und das Blättern zur Liste der Dramatis Creaturae (!) hemmt hier und da den Lesefluss. Der Ausgang der Geschichte war befriedigend, allerdings etwas enttäuschend nach dieser komplexen und fantasievollen Handlungsfolge.
Eine Abenteuergeschichte, eine Detektivgeschichte und eben doch auch ein Märchen. Swann experimentiert mit den bekannten Genres und zeigt, wie eng Realität und Phantasie nebeneinander liegen können. Eine Geschichte über Befreiung und über mehr Mut zur Phantasie. In der ersten Hälfte bleibt die Handlung etwas auf der Strecke, aber Kreativität soll hier belohnt werden. Eindeutige vier Sterne.
Dunkelsprung. Vielleicht kein Märchen.
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